Der Weg zurück zu Gott ist die Liebe

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Aus der 83. Predigt über das Hohelied vom hl. Bernhard von Clairvaux

Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied)

Jeder Mensch ist ein unzerstörbares Ebenbild Gottes.

Pest-Christus um 1630 / 40 in der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Nikolaus AT-6884 Damüls (Vorarlberg, Österreich)

Der Mensch hat sich von Gott entfremdet und soll zu ihm, und damit zu seinem eigenen tiefsten Wesen, zurückkehren.

Ihre einzige Sorge muß sein, dem Adel ihrer Natur durch ein Leben aus gebührend edler Gesinnung zu entsprechen und der göttlichen Auszeichnung, die ihr von ihrem Ursprung her eigen ist, nach Kräften durch die Farbe ihres ganzen Tuns und Wollens zur Entfaltung in Schönheit und Leuchtkraft zu verhelfen.

2. Weshalb sollte ihr Bemühen eingeschlafen sein? Sich Mühe geben zu können, ist ein großes Geschenk der Natur. Wenn dieses Geschenk nicht recht zur Erfüllung der Aufgabe genützt wird, für die es verliehen worden ist, wird unsere ganze übrige Natur verworren und überzieht sich mit dem Rost des Alterns und Verwitterns. Das ist eine Beleidigung ihres Schöpfers. Aus diesem Grund wollte Gott selbst als unser Schöpfer, daß in unserer Seele unverlierbar das Mal der Verwandtschaft mit seiner Größe erhalten bliebe: damit sollte unsere Seele für immer eine Erinnerung an das WORT in sich tragen, von der sie allzeit ermahnt würde, oder durch die sie immer beim WORT verharre oder zu ihm zurückkehre, wenn sie von ihm fortgegangen sein sollte.

Die Seele geht von Gott nicht fort, indem sie sich von einem Ort an den andern versetzt oder Schritte mit ihren Füßen tut, sondern sie geht in der Weise fort, wie es einem geistigen Wesen eigen ist, sich zu bewegen: indem sie sich mit ihrem Liebesverlangen, oder besser ihrem Liebesversagen von sich selbst weg auf etwas Schlechteres hin wendet. Sie wird dann durch ihre schlechte Lebensart sich selbst entfremdet und läßt sich verkommen. Dieses Sich-selbst-unähnlich- Werden bedeutet allerdings nicht, daß ihre Natur dadurch aufgehoben wird, sondern es ist ein Versagen an dieser Natur. Durch diesen Defekt wird nur um so deutlicher, wie gut die Natur an sich ist, und wie verunstaltet, wenn sie davon befallen wird.

Der Weg der Rückkehr und Angleichung an Gott: die Liebe.

Doch nun zur Rückkehr der Seele, zu ihrer Hinwendung zum WORT, durch das sie erneuert werden und dem sie gleichförmig werden soll. Worin? In der Liebe. Denn es heißt: «Seid Nachahmer Gottes, wie auch vielgeliebte Söhne; geht euren Weg in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt hat» (Eph 5,1).

3. Eine solche Gleichförmigkeit vermählt die Seele mit dem WORT. Von Natur aus ist sie ja bereits dem WORT ebenbildlich, und sie soll ihm auch ebenbildlich werden dem Willen nach, indem sie in derselben Weise liebt, wie sie geliebt wird. Wenn sie also vollkommen liebt, kann man sagen: sie ist vermählt.

Was ist köstlicher als diese Gleichförmigkeit? Was ist erstrebenswerter als die Liebe? Sie schenkt dir die Möglichkeit, Seele, über das Unbefriedigende, das die Menschen lehren, hinaus durch sich selbst voll Vertrauen zum WORT selbst vorzustoßen; das WORT ständig zu umarmen und das WORT aus nächster Nähe zu durchforschen und über alles zu befragen. Und je mehr dein Verstand zu fassen vermag, desto kühner wird deine Sehnsucht.

In der geistlichen Vermählung mit Gott weicht die Furcht vor der alles beherrschenden Liebe.

Das ist wirklich ein geistliches und heiliges Ehebündnis. Mit «Bündnis» sage ich zu wenig: es ist ein Einssein in der Umarmung. Ja, es ist eine Umarmung, denn zwei wollen das gleiche und wollen das gleiche nicht und werden dadurch ein Geist (vgl. 1 Kor 6,17).

Es ist im übrigen nicht zu befürchten, die Ungleichheit der Partner beeinträchtige in irgendeiner Hinsicht den Einklang des Wollens, denn die Liebe kennt keine Scheu. Das Wort «Liebe» stammt vom Wort «lieben», nicht vom Wort «ehren». Wer Furcht, Scheu, Angst oder Staunen gegenüber jemandem hat, mag diesen ehren; bei einem Liebenden hört all das auf. Die Liebe hat an sich selbst genug. Wo die Liebe einzieht, reißt sie alle anderen Empfindungen und Strebungen an sich und nimmt sie gefangen. Deshalb liebt die Seele, die liebt, und sie kennt nichts anderes mehr als lieben. Und er, dem zu Recht Ehre gebührt, zu Recht Scheu und Bewunderung, liebt es noch mehr, geliebt zu werden.

Gott und die Seele sind Bräutigam und Braut. Was suchst du in dieser bräutlichen Beziehung eine andere Pflicht und Verbindung außer der, geliebt zu werden und zu lieben? Diese Verbindung ist sogar stärker als das, was die Natur besonders eng verknüpft hat, das Band zwischen Eltern und Kindern. «Deshalb», so heißt es, «wird der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seine Braut umarmen» (Mt 19,5). Du siehst, diese Zuneigung, die Bräutigam und Braut beseelt, ist nicht nur stärker als die übrigen Neigungen, sondern sie ist sogar stärker als sie selbst.

4. Laß nun noch dazukommen, daß dieser Bräutigam nicht nur ein Liebender, sondern die Liebe in Person ist. Ist er nicht auch die Ehre in Person? Mag das behaupten, wer will; ich habe das nirgends gelesen. Gelesen habe ich jedoch: «Gott ist die Liebe» (1 Joh 4,16); daß Gott die Ehre sei, habe ich nicht gelesen. Das soll nicht heißen, Gott wolle keine Ehre; er hat ja gesagt: «Wenn ich der Vater bin, wo ist da meine Ehre?» (Mal 1,6). Tatsächlich spricht der Vater so. Aber wenn er sich als Bräutigam vorstellt, ändert er, glaube ich, seine Stimme und sagt: «Wenn ich der Bräutigam bin, wo ist da meine Liebe?» Denn vorher hat er auch das gesagt: «Wenn ich der Herr bin, wo ist da meine Furcht?» (Mal 1,6).

So verlangt also Gott, als Herr gefürchtet, als Vater geehrt und als Bräutigam geliebt zu werden. Was ist das Vorzüglichste davon, was überragt alles? Natürlich die Liebe. Ohne die Liebe kreist die Furcht um die Strafe, bleibt die Ehre ohne Gnade. Die Furcht ist knechtisch, solange sie nicht von der Liebe an der Hand geführt wird.

Und eine Ehrerbietung, die nicht aus der Liebe kommt, ist keine Ehrerbietung, sondern Kriecherei. Zwar gebühren «allein Gott Ehre und Herrlichkeit» (1 Tim 1,17); aber keines von beiden nimmt Gott an, wenn es nicht mit dem Honig der Liebe gewürzt ist. Die Liebe genügt sich selbst, hat an sich selbst und um ihrer selbst willen Gefallen. Sie ist für sich selbst Verdienst, ist Lohn. Die Liebe sucht keinen Grund, keine Frucht außerhalb ihrer selbst: wer die Liebe verwirklicht, der erntet im Verwirklichen ihre Frucht. Ich liebe, weil ich liebe; ich liebe, um zu lieben.

Die Liebe ist die einzige Haltung, mit der das Geschöpf dem Schöpfer wirklich entsprechen kann.

Etwas Großes ist die Liebe, wenn sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückeilt, wenn sie wieder bei ihrem Ursprung ist, wenn sie in lebendiger Beziehung zu ihrer Quelle steht und allzeit aus ihr die ständig fließenden Wasser schöpft. Unter allen Regungen, Empfindungen und Strebungen der Seele ist die Liebe die einzige Kraft, mit der das Geschöpf – wenn auch nicht von gleich zu gleich – seinem Schöpfer entsprechen oder jedenfalls seine Zuneigung mit einer ähnlichen Haltung erwidern kann. Wenn mir dagegen zum Beispiel Gott zürnt, kann da meine Reaktion ein ähnlicher Zorn sein? Keineswegs. Meine Reaktion wird Furcht sein, wird Zittern sein, wird Bitte um Vergebung sein. Und ebenso: wenn er mich tadelt, kann ich ihm nicht mit Tadel erwidern, denn er wird mir gegenüber recht behalten. Und wenn er mich richtet, kann ich ihn nicht auch richten, sondern nur anbeten. Wenn er mich rettet, erwartet er nicht von mir, daß ich ihn auch rette. Er ist auch nicht darauf angewiesen, daß ihm jemand seinerseits Freiheit schenkt, wo er doch alle befreit. Wenn er der Herr ist, muß ich ihm dienen; wenn er befiehlt, muß ich gehorchen und nicht auch umgekehrt von ihm einen Dienst oder Gehorsam verlangen.

Jetzt siehst du, wie anders das mit der Liebe ist. Denn wenn Gott liebt, dann will er nichts anderes, als geliebt werden. Er liebt nur mit einer einzigen Absicht: er möchte geliebt werden; denn er weiß, daß solche, die sich lieben, durch diese Liebe selbst glücklich sind.

Die Liebe der Braut sucht nicht nach Lohn: ihr Lohn ist die Liebe selbst.

5. Die Liebe ist etwas Großes. Aber es gibt in ihr Stufen. Die Braut steht auf der obersten Stufe.

Denn auch die Söhne lieben, aber sie denken an die Erbschaft. Sie leben in der Furcht, diese Erbschaft durch irgendeinen Umstand zu verlieren, und deshalb ist in ihnen mehr Furcht vor ihm, von dem sie die Erbschaft erwarten, und ihre Liebe ist geringer.

Zweifelhaft ist mir eine Liebe, deren Antrieb nur die Hoffnung ist, an etwas anderes heranzukommen. Eine Liebe, die beim Schwinden dieser Hoffnung auf etwas anderes entweder erlischt oder geringer wird, ist eine kranke Sache. Eine solche Liebe, die auf etwas anderes aus ist, ist unlauter. Die lautere Liebe lebt nicht vom Lohn. Die lautere Liebe schöpft ihre Kräfte nicht aus der Hoffnung auf einen Gewinn außerhalb ihrer selbst, und sie leidet keinen Schaden, wenn solche Aussichten schwinden. Das ist die Liebe der Braut, denn so ist die Braut, wer immer sie ist. Die Habe und Hoffnung der Braut ist einzig und allein die Liebe. An ihr hat die Braut Überfluß. und das genügt dem Bräutigam. Es sucht nichts anderes, und sie hat nichts anderes. Deshalb ist er der Bräutigam, und sie ist die Braut. Diese Liebe ist dem Bräutigam und der Braut vorbehalten, und niemand anderer reicht an sie heran, nicht einmal der Sohn.

Seinen Söhnen ruft Gott zu: «Wo ist meine Ehre?» (Mal 1,6), und nicht: «Wo ist meine Liebe?», denn diesen Vorzug behält er der Braut vor. Dem Menschen wird auch befohlen, seinen Vater und seine Mutter zu ehren, und dabei ist nicht vom Lieben die Rede: nicht weil die Kinder ihre Eltern nicht lieben sollten, aber weil viele Kinder dazu neigen, ihre Eltern eher zu ehren als zu lieben. Die Ehre des Königs mag das Urteil lieben (Ps 99,4); aber die Liebe des Bräutigams, ja die Liebe in Person, der Bräutigam, sucht einzig und allein den Austausch und das Bleiben in der Liebe. So kann die Braut ihm seine Liebe erwidern. Und könnte die Braut, die Braut der Liebe, etwa nicht lieben? Könnte die Liebe anders als sich lieben lassen?

In der Liebe wird die Seele mit dem WORT vermählt.

6. So gibt sie mit Recht alle anderen Strebungen auf und widmet sich einzig und völlig der Liebe, denn sie soll der Liebe entsprechen, indem sie ihr Liebe zurückschenkt.

Wenn sich die Braut ganz verflüssigt zu einem Strömen der Liebe, wieviel ist das im Vergleich zum ewigen Strom, der aus der Quelle der Liebe fließt? Die Liebende und die Liebe, die Seele und das WORT, die Braut und der Bräutigam, der Schöpfer und das Geschöpf fließen nicht in gleicher Fülle, sondern sie lassen sich vergleichen mit einem Durstigen und einer Quelle. Was bedeutet das? Wird zunichte, wird völlig inhaltslos, was in der Braut vorgeht: ihr Gelöbnis zur Vermählung, ihre Sehnsucht und ihr Seufzen, ihre glühende Liebe, ihre kühne Zuversicht, weil sie nicht als Ebenbürtige mit dem Riesen laufen kann, nicht an Süße es mit dem Honig gleichtun kann, nicht an Milde dem Lamm, an makellosem Leuchten der Lilie, an Strahlkraft der Sonne, an Liebe dem, der die Liebe ist? Nein. Denn mag auch das Geschöpf weniger lieben, weil es kleiner ist, so fehlt ihm doch an der Fülle der Liebe nichts, wenn es mit seinem ganzen Wesen liebt. Und deshalb habe ich gesagt: so lieben, heißt vermählt worden sein. Denn wenn die Seele so vollkommen liebt, kann es gar nicht anders sein, als daß sie ebenso vollkommen geliebt wird; und wenn zwei ganz übereinstimmen, ist das eine völlige und vollkommene Vermählung.

Es besteht kein Zweifel, daß die Seele vom WORT zuerst und mit größerer Liebe geliebt wird. So kommt ihr das WORT mit der Liebe zuvor und besiegt sie. Selig, die es verdient, von solcher köstlicher Segnung überrundet zu werden! Selig, der es geschenkt ist, eine Umarmung von solcher Süße erfahren zu dürfen! Das ist nichts anderes als die heilige und keusche Liebe, die süße und köstliche Liebe, die heitere, weil so lautere Liebe, die gegenseitige Liebe, die innige und starke, die zwei Wesen nicht in einem Fleisch, sondern in einem Geist verbindet; die zwei nicht mehr als zwei läßt, sondern eins macht, so wie Paulus sagt: «Wer Gott umarmt, ist ein Geist mit ihm» (1 Kor 6,17).

Bernhard von Clairvaux, Zeugnisse mystischer Welterfahrung, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Bernhardin Schellenberger, Lizenzausgabe, Walter Verlag Olten, 1983, S. 93-100

Weitere Hinweise und Quellen

  • Hl. Bernhard – Nichts wissen außer Christus, als den Gekreuzigten (Gedenktag des hl. Bernhard von Clairvaux)
Ref.: Abt Dr. Maximilian Heim OCist (Zisterzienser)
Heiligenkreuz im Wienerwald, Österreich
20.08.2023 – Laufzeit: 00:49:35 – Dateigröße: 22,70MB

  • P. Karl Wallner gibt Einblicke in das Leben und die Bedeutung des heiligen Bernhard von Clairvaux, einem führenden Theologen des Mittelalters.
567 Aufrufe 28.04.2021
Mit Prof. P. Dr. Karl Wallner OCist, Gründungsrektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz. Er war der führende Kirchenpolitiker, Prediger und Theologe seiner Zeit. Seine Schriften beeinflussten Thomas von Aquin, Meister Eckhart und den Dichter Dante. Der heilige Bernhard von Clairvaux nahm aber auch Anteil am politischen Geschehen seiner Zeit, beriet Päpste, Könige und den Kaiser und war maßgeblich am Zustandekommen des Zweiten Kreuzzugs beteiligt. Mehr über den wohl berühmtesten Zisterzienser verrät uns heute ein Mitbruder des 21. Jahrhunderts: Pater Karl Wallner

  • Bernhard und die Entdeckung der Liebe
    20.08.2019
    Spiritualität um 14:00 Uhr mit Sr. M. Mechthild Buttala – zum Gedenktag des Hl. Bernhard von Clairvaux. Bernhard hat Gott neu entdeckt als den Liebenden, als die Liebe. Der zentrale Punkt im Leben und in der Lehre des heiligen Bernhards ist die Gottesliebe. Er wird nicht müde, das Wort aus dem Johannesbrief „Gott ist die Liebe“ (1Joh.4,8 und 14,6b) und “Gott hat uns zuerst geliebt“ (1 Joh.4,19) zu zitieren. Diese Wahrheit, von der er ergriffen ist, verkündet er. Im Mittelpunkt seiner Liebe steht Jesus Christus.
Bernhard von Clairvaux (1090 -1153)
Mystiker, Kirchenlehrer und Ordensvater der Zisterzienser. Geistlicher Schriftsteller und eine der großen Heiligengestalten des Mittelalters

By Louis A. Venetz

Dipl. Ing. FH in Systemtechnik